Schlangengift-Forschung mit KI
David Jenkins
David Jenkins

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schlangengift-forschung
mit KI


Jedes Jahr werden Millionen von Menschen von Giftschlangen gebissen, denn der Lebensraum dieser Schlangen wird mehr und mehr abgeholzt, bebaut oder beackert. Dies erhöht die Chance auf Begegnungen zwischen Mensch und Schlange enorm und somit steigt auch die Gefahr eines Bisses. Schlangen sind scheu, aber fühlen sie sich bedroht, kann es unangenehm ausgehen. Die Lebensräume der Giftschlangen überschneiden sich oft mit denen der meist ärmeren, ländlichen Bevölkerung, die erschwerten Zugang zu den modernsten Medikamenten hat, und da Gegengifte teuer sind, hat diese Bevölkerungsgruppe auch am meisten unter den Folgen zu leiden.

Das Tropical Pharmacology Lab an der Danmarks Tekniske Universitet (DTU) in Kopenhagen forscht nach besseren und günstigeren therapeutischen Lösungen. Hier hilft BettercallPaul mit der Umsetzung einer neuen KI-Lösung auf Basis neuer Forschung von DeepMind. Um zu zeigen, wie KI bei der Forschung nach Gegengiften helfen kann, widmen wir uns in diesem Blogartikel zunächst der Frage, wie Schlangengifte wirken. Aber zunächst zum Hintergrund:

Die Proteine

Proteine sind die Basis all unseres bekannten Lebens. In diesem Zusammenhang hat sich in Deutschland seltsamerweise der Begriff Eiweiß durchgesetzt, obwohl ein Eigelb pro Gramm bedeutend mehr des Lebensstoffes enthält und zudem auch besser schmeckt. 😉

Sei’s drum – Proteine & Eiweiß – damit ist eine Kette von Molekülen gemeint, die hintereinander aufgereiht sind und damit die fundamentalen Bausteine des Lebens, die Aminosäuren, bilden. Der Körper weiß, wie er die Aminosäuren herstellen muss. Genauer gesagt, unsere Desoxyribonukleinsäure (DNS), die die Baupläne der Proteine beinhaltet, weiß das – zumindest für zwanzig der insgesamt ca. 500 bekannten Aminosäuren. Die DNS teilt den Zellen mit, welche Aminosäuren und in welcher Reihenfolge diese angehängt werden. Die Verbindungen zwischen den Aminosäuren heißen Peptidbindungen und deswegen bezeichnet man ein Fragment eines Proteins als Peptid:

DNS – AMINOSÄUREN – PEPTIDE – PROTEINE

Neben ihren geschmacklichen Eigenschaften regeln Proteine auch alle weiteren wichtigen Funktionen des Lebens: von der Zellwand bis zum Zwerchfell, vom Insulin bis Immunglobulin, alles besteht aus Proteinen. Es gibt sogar ein Pikachu-Protein, das die Netzhaut-Funktion unseren Augen regelt. Manche Lebewesen können mit einem Trick sogar zwei weitere Aminosäuren synthesieren. Unter den Proteinen bilden die Enzyme eine wichtige Gruppe. Enzyme sind die Katalysatoren des Körpers, denn sie regeln die Geschwindigkeit von biochemischen Prozessen. Was die Funktion eines Proteins bestimmt, ist in fast allen Fällen seine räumliche Struktur – also seine Form. Proteine werden für ihre jeweilige Funktion passgenau hergestellt. Aktuellstes Beispiel ist das „Spike“-Protein von SARS-CoV-2 – dem Coronavirus.

Diese Spikes sind so konstruiert, dass sie an bestimmten Stellen auf der Oberfläche einer menschlichen Zelle andocken können. ACE2 ist beispielsweise ein Enzym (also ein Protein), welches den Blutdruck regelt. Die Spikes können sich mit ACE2 verbinden und so dem Virus den Zugang zur Maschinerie der Zellen verschaffen, sodass dieser die Zellen für eigene Zwecke nutzen kann. Schlangengifte sind aber noch viel gewiefter!

Die Proteine und Schlangengifte

Schlangen sind faszinierende Tiere. Sie sind alt und seit dem Jura bekannt. Die ältesten bekannten Schlangenfossilien sind britisch, was möglicherweise die Handlungsweise britischer Politiker:innen erklärt. 😉 Das Problem: seit jeher gelten Schlangen als schleimig oder widerlich und als Symbol für Hinterlistigkeit. Wenn jemand mit gespaltener Zunge spricht, bewundern wir nicht die akkurate Sinneswahrnehmung des Jacobsons Organs, das der Schlange quasi Riechen in Stereo ermöglicht.

Schlangen haben einfach eine schlechte Presse. Dabei haben sie den Meteoriteneinschlag überlebt, der die bisher erfolgreichste Großtierfamilie, die Dinosaurier, vernichtete. Sie haben Dschungel, Wüsten, Wälder und Korallenriffe erobert. Sie können schwimmen, kriechen und ja, auch fliegen. Es gibt sie bereits seit 170 Millionen Jahren auf diesem Planeten. Manche von ihnen haben im Verlauf der Evolution die Zeit genutzt, um die giftigsten Toxine aller Wirbeltiere zu entwickeln. Schlangengifte sind eine Kunstform. Unter ihnen gibt es:

Gifte, die das Blut zerstören.
Nervengifte, bei denen die Atmung aussetzt, sodass man erstickt.
Nervengifte, die die Gliedmaßen paralysieren.
Zellengifte, die die Zellenmembrane auflösen, wodurch die angegriffenen Zellen einfach austerben
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Diese verschiedenen Angriffsvektoren können auch vermischt werden. So können beispielsweise Drei-Finger-Toxine in Kobragiften als Kardiotoxine agieren. Diese erhöhen oder verlangsamen den Herzschlag. Als Zytotoxine reißen sie Löcher in die Zellwände und unterbrechen als Nervengift die Nervensignale an die Muskeln, um ihre Beute zu lähmen. All dies wird zusätzlich unterstützt und perfektioniert durch ein Arsenal an Begleitenzymen, um so eine perfekte Mordwaffe zu schaffen. Neben ihrer tödlichen Wirkung finden diese Gifte aber auch eine vielseitige Anwendung im medizinischen Bereich. Im Jahr 1891 injizierte z. B. ein Arzt einem Jungen Viper-Gift, um seinen Wundstarrkrampf zu entspannen. Toxine, die den Herzschlag regeln, finden Anwendung in der Kardiologie. Nervengifte können chronischen Schmerzen lindern. Und Zellengifte sind eine wirksame Waffe gegen Krebs.

Es gibt zwar Hinweise darauf, dass Speikobras ihre einzigartige Verteidigung entwickelt haben, um Menschen abzuwehren (THE CONVERSION „Spitting cobras may have evolved unique venom to defend from ancient humans“ , September 2021), aber im Allgemeinen wurden die Gifte von den Schlangen entwickelt, um zu jagen und nicht um Menschen anzugreifen oder gar zu töten. Menschen sind einfach zu groß, als dass sie für eine Kobra als Häppchen zwischendurch verlockend sind. Das Problem, wie bei so viele anderen Tieren – vom Tiger bis zur Tennessee-Kieselschnecke ist ihr Lebensraum.

Wir holzen ab, wir legen trocken und wir pflanzen die falschen Dinge an. Und dabei stören wir Schlangen, die sich selbstverständlich wehren, wenn sie sich bedroht fühlen und nicht entkommen können.

Meistens werden ärmere Menschen gebissen

Nicht alle Bisse sind tödlich, aber permanente Lähmung, nekrotische Wunden oder Blindheit zerstören das Leben der Betroffenen und die Leben derer, die von ihnen abhängen.

Wenn man beispielsweise derzeit in der Süd-Sahara im nördlichen Afrika gebissen wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass man irgendein Gegengift bekommt – auch wenn es z. B. gegen den Biss einer indischen Schlange entwickelt wurde, weil der größte Hersteller des entsprechenden kostengünstigen Gegengiftes sich aus dem Geschäft zurückgezogen hat, um für sich profitablere Märkte zu erschließen.

Die Zeit zwischen Biss und Behandlung ist in vielen Ländern ein kritischer Faktor

Eine brasilianische Studie hat gezeigt, dass man lediglich sechs Stunden hat, um einigermaßen glimpflich davon zu kommen. Bereits eine Stunde länger und der Fall ist nicht mehr so einfach. Ab einer weiteren Stunde wird es sehr ernst und ab ca. 15 Stunden ohne Behandlung ist der Verlauf meist tödlich.

Gegen die zwei größten Probleme – die Kosten und den Transport von Gegengiften – kämpft das Tropical Pharmacology Laboratory der Danmarks Tekniske Universitet (DTU) in Lyngby bei Kopenhagen. Das Labor, unter der Leitung von Professor Andreas H. Laustsen, forscht auf dem Gebiet der Antikörper gegen Schlangengifte. Genau so spezifisch wie die Schlangentoxine selbst zielen Antikörper auf die einzelnen Wirkproteine des Schlangengifts ab. Dieses Verfahren ist wesentlich günstiger und auch ethischer als die herkömmliche Methode, Antikörper von mit Schlangengift injizierten Pferden zu „ernten“. Außerdem ermöglicht diese Methode deutlich temperaturstabilere Medikamente, die den Transport zu und die Lagerung in den Gefahrenzonen vereinfachen.

Mit dieser neuen Herstellungsmethode werden die produzierten Antikörper gegen die Schlangentoxine so geformt, dass sie genau an eine kritische Stelle des entsprechenden Giftproteins andocken und ihn so deaktivieren können. Es sind sozusagen der Schüssel, der in das Schlüsselloch passt und mit dem Menschenleben gerettet oder Auswirkungen von Schlangengiften gemindert werden können.

Um diese Schlüssel herstellen zu können, muss man allerdings verstehen, wie das entsprechende Schlüsselloch – also die räumliche Struktur des jeweiligen Schlangengiftes aussieht.

Und wie genau das funktioniert, erfährst du in unserem späteren Blogartikel „Der gemeinsame Nenner von KI und Schlangen“.


Über den Autor: David Jenkins

Inselflüchtig wurde David Jenkins bereits 1985 – seitdem lebt er mit seiner Familie in und um München. Seine Laufbahn umfasste alles von Echtzeit-Embedded-Programmen, CAD-Software, Preismodellen für Finanzinstrumente bis hin zur Fahrzeugteileprognose. Seit dem Studium mathematisch interessiert, treibt er die KI-Aktivitäten von BettercallPaul in München voran. Und dass sein Sohn Gegengifte für Schlangentoxine erforscht, findet er cool.

Danksagung

Mirdita et al.: https://lnkd.in/dWuGJwzE (2021)
DeepMind
Andreas Laustsen
Timothy Jenkins

Quellenverzeichniss

Snake Envenoming: A Disease of Poverty
Robert A. Harrison ,Adam Hargreaves,Simon C. Wagstaff,Brian Faragher,David G. Lalloo https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0000569

Gutiérrez, J., Calvete, J., Habib, A. et al. Snakebite envenoming. Nat Rev Dis Primers 3, 17063 (2017).
https://doi.org/10.1038/nrdp.2017.63 

Mol* Bilder von Q9PRP8: Mol*: D. Sehnal, S. Bittrich, M. Deshpande, R. Svobodová, K. Berka, V. Bazgier, S. Velankar, S.K. Burley, J. Koča, A.S. Rose (2021) Mol* 
Viewer: modern web app for 3D visualization and analysis of large biomolecular structures. Nucleic Acids Research. https://doi.org/10.1093/nar/gkab314 

RCSB PDB: H.M. Berman, J. Westbrook, Z. Feng, G. Gilliland, T.N. Bhat, H. Weissig, I.N. Shindyalov, P.E. Bourne. (2000) The Protein Data Bank Nucleic Acids Research, 28: 235-242. rcsb.org 

The UniProt Consortium: UniProt: the universal protein knowledgebase in 2021 Nucleic Acids Res. 49:D1 (2021) 

Artikel vom Januar 2021: THE CONVERSION „Spitting cobras may have evolved unique venom to defend from ancient humans