Wie viel UX brauchen Enterprise Applications?
Sascha Vöhringer
Sascha Vöhringer

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Lesedauer: 6 Minuten

Wie viel UX brauchen Enterprise Applications?


Ihr macht doch gar kein UX-Design!

Diesen Satz bekomme ich immer wieder zu hören, wenn es um die Diskussion geht, wie wir bei BettercallPaul Software designen und entwickeln.

Dabei stößt schon alleine das Buzzword Design, vor allem im deutschsprachigen Raum, oft auf Missverständnisse. Eine Person versteht darunter den Konstruktionsprozess zur Implementierung einer Software-Lösung. Eine andere Person versteht darunter die Form und Gestaltung der Nutzungsoberfläche. Wieder eine andere Person bezieht das Wort gar nicht auf Software. Wir müssen also zunächst mal das Wort Design abstrahieren und im jeweils richtigen Kontext verwenden.

„Design ist Kunst, die sich nützlich macht“

Ja, Design ist Kunst. Aber Kunst ist nicht nur oberflächlich betrachtet ein schönes Gemälde oder wie in unserem Geschäft ein ästhetisches User Interface. Kunst ist ebenso der Anwendungskern, der läuft wie geschmiert. Kunst sind robuste Schnittstellen zu Fremdsystemen, die tagtäglich ihre Arbeit verrichten. Und eine Kunst ist es, dass ein:e Nutzer:in durch unsere Software seine Arbeit effektiv, effizient und zufriedenstellend erledigen kann (Fachkundige merken schon: Das ist die Definition von UX).

Reden wir nun z. B. über Software-Design, so meinen wir meist die ganze Bandbreite von Requirements Engineering, Architektur über Datenmodellierung bis hin zum Interface Design. Reden wir über GUI-Design, so meinen wir die Gestaltung der Nutzungsoberfläche. Und reden wir über UX-Design, so meinen wir die Gestaltung der gesamten User Experience (inkl. des GUI-Design).

Zu sagen „wir machen kein UX-Design“ würde demnach zusammengefasst bedeuten: „Wir machen keine grafischen Oberflächen“ und „Wir achten nicht auf die Benutzererfahrung“. Zwei Dinge, die ich an dieser Stelle schon mal grundlegend verneinen kann!

Im Übrigen: Im Englischen ist es so, dass die Bedeutung von „Design“ den kompletten Gestaltungsprozess umfasst.

Designing Software that helps people do their jobs

Nun ist es tatsächlich so, dass wir überwiegend Software bauen, deren Entwicklung von Unternehmen beauftragt wird. Diese Art von Software ist meist hochkomplex, individuell, datenintensiv und muss in einem schon bestehenden Unternehmens-Ökosystem funktionieren. Wir sprechen hier von Enterprise Applications oder B2B (Business to Business). Enterprise Applications sind nicht experimentell, sondern basieren auf Anforderungen der Business Unit (meist nicht Nutzer:innen selbst). Sie tragen oft die Hauptlast der digitalen Geschäftsprozesse und sind tief in die Unternehmensbereiche verdrahtet. Effektivität und Erhöhung der Produktivität stehen im Vordergrund.

Stellt euch eine Enterprise Application wie ein Bauteil in einer riesigen Maschine vor. Nur wenn alle Bauteile zusammen funktionieren, funktioniert das Gesamtwerk. Das folgende Video einer selbstgebauten „Murmelmaschine“ verbildlicht das gut (und der Sound ist auch klasse).

Nutzer:innen von Enterprise Applications sind Spezialist:innen, die die Software benötigen, um ihre tägliche Arbeit zu erledigen. Ihre Arbeit ist meist sehr komplex und die Software individuell darauf zugeschnitten. Die Nutzer:innen haben also keine Wahl – sie können nicht auf eine andere Software ausweichen, falls Funktionen fehlen, das GUI-Design nicht gefällt oder die Nutzerführung nicht passt.
Sie nutzen das, was das Unternehmen ihnen zur Verfügung stellt.

“One of the biggest differences between enterprise and consumer applications is that most users of enterprise applications don’t have a choice about using them. Their employer is telling them to do so.“
www.uxmatters.com

Und aus genau diesen Gründen ist UX für Enterprise Applications so wichtig. Die Software hat direkten Einfluss auf die Mitarbeiter:innen – und somit auch darauf, ob diese gerne zur Arbeit kommen oder nicht. Ebenso hat sie Einfluss auf die Effizienz der Aufgabenerledigung und somit auch auf die schon erwähnte Produktivität. Nur wenn auch die Nutzer:innen der Enterprise Applications in die Entwicklung mit eingebunden werden, können wir es schaffen, Kosten/Nutzen zu optimieren, Prozesse optimal abzubilden, Schleifen zu vermeiden und ein benutzbares Produkt zu schaffen, dem Nutzer:innen und Auftraggeber gleichermaßen vertrauen.

Für die Qualitätsmanager:innen unter euch und auch für Auftraggeber, die die Wichtigkeit von UX noch unterschätzen, sei an dieser Stelle noch die 1-10-100-Regel erwähnt: Einfach ausgedrückt, besagt sie, dass es 1 EUR kostet, einen Fehler in der Forschungsphase zu beheben, 10 EUR in der Designphase und 100 EUR, um ihn nachträglich im fertigen Produkt zu beheben. UX ist eben nicht nur „hübsche GUI“, sondern genauso das Sicherstellen von korrekter Funktionalität über alle Phasen auf allen Ebenen.

Und Funktionalität ist ja wichtiger als eine hübsche GUI

Nun ist es so, dass die Oberfläche, also die direkte Schnittstelle zwischen Mensch und Software, einen großen Teil der Nutzungserfahrung ausmacht. Sie trägt also wesentlich dazu bei, ob sich Nutzer:innen wohlfühlen. Und das nicht nur im funktionalen sondern natürlich auch im optischen Sinne.

Es ist leider oft Fakt, dass Enterprise Applications ihren Verwandten im B2C-Bereich (Business to Customer) optisch hinterherhinken. Dies liegt natürlich daran, dass der Fokus ein anderer ist und Enterprise Applications äußerlich, allein aus Werbezwecken, nicht glänzen müssen. Denn sie stehen ja nicht in direkter Konkurrenz zu einem anderen Produkt. Natürlich werden sie von den Nutzer:innen aber trotzdem mit bestehenden Möglichkeiten aktueller B2C-Produkte verglichen. Ist die neue Enterprise-App nun also rein äußerlich um Welten schlechter als die fünf Jahre alte Smartphone-App, müssen wir uns schon ganz banal fragen: „Muss das sein?“

Fazit

Der Begriff UX-Design ist tatsächlich etwas irreführend. Nutzer:innen einer Software haben immer ein Erlebnis. Ganz egal, ob wir UX-Design machen oder nicht. Die Aufgabe des UX-Designs liegt also darin, das Erlebnis zu verbessern und nicht darin, es zu erschaffen.

Ich denke jede Art von Software, ob nun B2B oder B2C, sollte die Mission haben, seine Nutzer:innen zufriedenzustellen und sie in allen Belangen zu unterstützen. Ansonsten brauchen wir keine Digitalisierung, sondern lassen die Leute lieber weiter mit Stift und Papier arbeiten. Und sind wir mal ehrlich: Nicht benutzbare Software in Unternehmen kennt jeder von uns. Sie erzeugt Frust und Unmut, sie senkt die Produktivität und wird früher oder später ausgetauscht. Wir von BettercallPaul wollen diejenigen sein, die diese Software austauschen und nicht diejenigen, deren Software ausgetauscht wird.

Abschließend bleibt zu sagen: Jede:r Business Analyst, Digital Designer, Software Engineer,
Software Architect, Frontend-Designer oder GUI-Developer kann einen Teil zu einer guten User Experience beitragen. Jede:r auf eigene Art und Weise. Und alle zusammen machen sie Kunst.


Über den Autor

Sascha Vöhringer ist ein erfahrener Digital Designer und Berater bei BettercallPaul in München. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich UX und Frontend-Design. Er hat umfassende Erfahrung in allen Projektphasen und schon mehrere Projekte von der Pike auf bis zum Go-Live begleitet.